Gefangen im Rollstuhl (Dieser Artikel erschien in HANDICAP 3/1997)
Datum: Mittwoch, 24.November 2004
Thema: Gesellschaft & Kommunikation


Dass auch Menschen mit Behinderung Straftaten begehen können, ist eine Möglichkeit, die weite Teile der Öffentlichkeit nicht in Betracht ziehen. Die Bandbreite reicht von Betrug über Anführung einer Diebstahlbande, gefährliche Körperverletzung, Straftaten im Milieu, Drogenhandel und Sexualdelikte bis hin zum Mord. Und die Zahl behinderter Straftäter nimmt zu. 



„Wir leben hier im Fünf-Sterne-Knast“


Der überdimensionale Schlüssel wird im Schloss der schweren Stahltür gedreht. Ohne weitere Vorankündigung wird die Tür geöffnet und gibt den Blick in einen etwa 14 Quadratmeter großen Raum frei, dessen Fenster mit orangefarbenen Tüchern verhängt sind. Die Eisengitter dahinter mit den fingerdicken Stäben lassen sich dennoch nicht übersehen. Abwartend und mit einer gewohnheitsmäßigen Neugier wendet Nico seinen Blick vom Fenster zu den Besuchern vor seiner Zelle.

Elf schwere und vergitterte Türen müssen auf- und zugeschlossen werden, damit man Nico besuchen kann. „Sie mögen mich für verrückt halten, aber wenn ich am Samstag entlassen werde, bin ich auch ein bisschen traurig“, sagt der 43jährige wie zu seiner Entschuldigung. Seit sieben Jahren sitzt Nico in der Justizvollzugsanstalt Bochum ein, ebenfalls seit sieben Jahren sitzt er im Rollstuhl. Hätte Nico seine Straftat drei oder vier Jahre früher begangen, wäre er vielleicht nie inhaftiert worden. Denn als 1987 die Pflegeabteilung der JVA Bochum eingerichtet wurde, war sie die erste ihrer Art in Nordrhein-Westfalen. Inzwischen gibt es in diesem Bundesland zwei Justizvollzugsanstalten, die auch kranke und behinderte Menschen inhaftieren. Bevor jedoch Bochum den Anfang machte, kamen behinderte Straftäter nicht selten ohne Inhaftierung davon, weil sie als nicht haftfähig im Rahmen des gewöhnlichen Strafvollzugs galten. Auch heute noch wird das Thema behinderter Straftäter eher am Rande beachtet. Selbst im Bundesjustizministerium liegen keine Statistiken zu Haftanstalten, die behinderte Menschen aufnehmen können oder über die Anzahl behinderter Straftäter vor. Kein Wunder also, dass die Häftlinge der Pflegeabteilung der JVA Bochum nicht immer heimatnah untergebracht sind, sondern aus ganz Nordrhein-Westfalen kommen. „Wir leisten hier sozusagen Pionierarbeit“, erklärt Frau Dr. Weyand, die die Pflegeabteilung leitet.

Als das Gefängniskrankenhaus Mitte der 80er Jahre aus der JVA Bochum ausgelagert wurde, kam die Idee, die frei werdenden Räumlichkeiten für Straftäter zu nutzen, die für den normalen Vollzug haftunfähig sind. Meist sind das Menschen, die an langwierigen Krankheiten leiden. Diese Häftlinge sind nicht so akut gefährdet, dass sie im Krankenhaus verbleiben müssten, sind aber auch nicht gesund genug für den normalen Vollzug. Einige der etwa 40 Inhaftierten dieser Abteilung sind jedoch behindert, wobei die Grenze zwischen beiden Gruppen selbstverständlich fließend ist.

Dass auch Menschen mit Behinderung Straftaten begehen können, ist eine Möglichkeit, die weite Teile der Öffentlichkeit nicht in Betracht ziehen. Behinderte werden nicht selten als ausschließlich hilfsbedürftige Wesen angesehen, die unser Mitleid verdienen. Die weitverbreitete Unterstellung, dass Menschen mit Behinderung kaum in der Lage sind, ihr Leben selbstständig zu organisieren und durchzuführen, ist kaum noch haltbar, wenn man sich die Liste der Straftaten ansieht, die behinderte Menschen im Laufe des zehnjährigen Bestehens der Pflegeabteilung in Bochum hierher gebracht hat. Die Bandbreite reicht von Betrug über Anführung einer Diebstahlbande, gefährliche Körperverletzung, Straftaten im Milieu, Drogenhandel und Sexualdelikte bis hin zum Mord. Und die Zahl behinderter Straftäter nimmt zu. Dr. Weyand vermutet allerdings, dass diese Entwicklung vor allem in der schärferen Vorgehensweise im Sexualstrafrecht begründet liegt.

Sieben Zellen der Pflegeabteilung sind behindertengerecht eingerichtet. Diese Zellen sind nicht nur größer als gewöhnlich, sie verfügen auch über Haltegriffe an den Toiletten sowie ein höhenverstellbares Bett mit Bettgalgen. Die medizinische Betreuung wird zwar von Dr. Weyand durchgeführt, doch für einige Untersuchungen werden die Häftlinge in Spezialkliniken gebracht. Querschnittgelähmte werden beispielsweise zweimal im Jahr im Querschnittzentrum Bochum durchgecheckt und dort auch über Neuerungen auf dem Hilfsmittelmarkt informiert. Die Hilfsmittel wiederum werden zwar von der JVA zur Verfügung gestellt, bleiben aber deren Eigentum. Für die bevorstehende Entlassung musste Nico sich deshalb einen Rollstuhl von seinem eigenen Geld kaufen. Trotzdem sind die meisten Häftlinge der Pflegeabteilung mit ihrer medizinischen Versorgung zufrieden. Nico beispielsweise hatte nach Eintritt seiner Querschnittlähmung große Probleme mit der Entleerung von Blase und Darm. Als er von dem Vorderwurzelstimulator nach Brindley hörte, beantragte er eine entsprechende Operation und bekam sie auch genehmigt. In Schwelm setzte man Nico ein entsprechendes Gerät ein, mit dem er heute sehr zufrieden ist. Doch bis dahin war es ein weiter Weg, weil die Stimulation von Blase und Darm zunächst nicht funktionierte. Kurzerhand schraubte Nico das hochkomplizierte elektronische Gerät auf und probierte jede einzelne der Hunderte von Möglichkeiten aus, bis es funktionierte. Zwar wird diese Methode Medizinern die Haare zu Berge stehen lassen, doch für Nico zählt einzig der Erfolg.

Kalle ist es recht, dass auch behinderte Menschen ihre Haftstrafen antreten müssen. Der 32jährige ist aufgrund von Muskelschwund auf die ständige Benutzung eines Elektrorollstuhls angewiesen und stellt nüchtern fest: „Es heißt doch immer, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Also hier bin ich.“ Aber auch Kalle ist sich darüber bewusst, dass der Strafvollzug für ihn leichter ist als für nichtbehinderte Häftlinge. Denn die Pflegestation der JVA Bochum hat mit dem Rest der Haftanstalt wenig gemeinsam.

Nicht nur, dass sogar eine Mauer die Gebäude voneinander trennt, auch in der Art des Vollzugs ist manches anders. Einer der Vorteile der Pflegeabteilung ist beispielsweise, dass die Fenster normale Größe haben und nicht nur kleine Oberlichter sind. Außerdem bleiben die Türen der Zellen nachmittags geöffnet, so dass die Inhaftierten sich in den Abteilungen frei bewegen können. Überdies haben die Häftlinge statt einer zwei Stunden frei, um im eigenen Garten der Pflegeabteilung spazierenzugehen bzw. zu rollen. In jeder Etage steht den Inhaftierten auch eine kleine Küche mit Kühlschrank zur Verfügung. Nico ist besonders wichtig, dass es in den Zellen warmes Wasser und ein Kopfkissen gibt, was gegenüber dem Haupthaus ebenfalls Privilegien sind, wo es nur kaltes Wasser und einen Schaumstoffkeil gibt.

Allerdings haben die Häftlinge der Pflegeabteilung nicht nur Vorteile. Beispielsweise können sie an Ausbildungsprogrammen, wie sie für nichtbehinderte angeboten werden, nicht teilnehmen. Zwar wäre es im Einzelfall möglich, eine Schulausbildung durchzuführen, doch hat sich dafür noch nie die Notwendigkeit ergeben. Eine denkbare Erklärung dafür ist, dass der Altersdurchschnitt der behinderten Häftlinge gegenüber ihren nichtbehinderten Leidensgenossen deutlich höher ist. Auch am offenen Vollzug können kranke und behinderte Menschen kaum teilnehmen. Nico hat es zwar einmal versucht, war aber nach wenigen Tagen wieder zurück in seiner gewohnten Zelle. Die Anforderungen an die Selbstständigkeit waren für ihn als Rollstuhlfahrer zu hoch.

Die Trennung der beiden Gruppen geht so weit, dass es kaum Berührungspunkte gibt. Höchstens während der Gottesdienste und einiger Sonderveranstaltungen kommt es zu Kontakten zwischen behinderten und nichtbehinderten Häftlingen. Doch beklagen die meisten Inhaftierten der Pflegeabteilung diesen Zustand nicht. In Anbetracht der vielen Vorteile, die sie genießen, können sie auf eine Integration verzichten. Das Haupthaus ist als rau, laut und dreckig verrufen, so dass Kalle den meisten Häftlingen der Pflegeabteilung aus der Seele zu sprechen scheint, wenn er sagt: „Wir leben hier in einem Fünf-Sterne-Knast.“

„Gegen drüben ist das hier eine Oase der Ruhe“, bestätigt auch einer der Vollzugsbeamten, und meint damit, dass die Häftlinge der Pflegeabteilung weniger Lärm verursachen und sich kooperativer verhalten. Nicht zuletzt deshalb ist das Verhältnis zwischen dem Personal und den Inhaftierten beinahe familiär. Nico jedenfalls hat seine Adresse mit der Schreibmaschine viele Male aufgeschrieben und verteilt die Schnipsel überall. Auch Frau Dr. Weyand erhält einen, mit der Bitte, sich mal bei ihm zu melden. Und Kalle sagt: „Wenn ich einmal die Woche raus dürfte, würde ich hier bleiben.“ Besonders für Kalle ist die Inhaftierung keine wesentlich neue Erfahrung. Er ist seit seiner Kindheit behindert und deshalb gewöhnt, in speziellen Einrichtungen zu leben. 13 Jahre lang hat er in einem Internat für behinderte Kinder 300 Kilometer von zu Hause entfernt gewohnt. „Da war statt einer Mauer ein Zaun drum und man musste einen Ausgangsschein ausfüllen, wenn man raus wollte, sonst war es nicht viel anders als hier“, ist seine ernüchternde Erfahrung. Weil ihm die Ärzte eine niedrige Lebenserwartung prophezeiten und ihm der familiäre Rückhalt fehlte, ist er schon als Zwölfjähriger in die Drogenszene abgerutscht. Aufgrund von wiederholter Beschaffungskriminalität sitzt er nun eine mehrjährige Haftstrafe ab. Seine Erfahrungen in der JVA Bochum haben ihn gleichwohl erleichtert, weil er es im Knast schlimmer erwartet hatte.

Dass er überhaupt dorthin kommen würde, damit hatte er indes nie gerechnet. Der Rollstuhl bot für ihn im doppelten Sinne beinahe ideale Möglichkeiten, seine Drogen im Ausland zu beschaffen. Zum einen werden Rollstuhlfahrer an den Grenzen in der Regel nicht so intensiv untersucht, und zum anderen haben Grenzbeamte und Polizisten mit behinderten Menschen nach Kalles Erfahrung mehr Nachsicht. Eine Verhaftung mit Handschellen hat denn bei Kalle auch nicht stattgefunden. Im Gegenteil, man hat Kalle zwar von seiner Verhaftung informiert, ihn aber erst sehr viel später abgeholt.

Für Nico stellte sich die Situation dagegen ganz anders dar. Er ist durch eine Schussverletzung querschnittgelähmt, die er sich selber nach Ausübung seiner Straftat zugefügt hat, um sich umzubringen. Er fühlt sich nun doppelt bestraft und kann sich mit seiner Situation auch nach sieben Jahren noch nicht abfinden. „Manchmal!, sagt er, „denke ich, dass ich wieder gehen kann, wenn ich wieder entlassen werde, aber das ist ja Unsinn.“ Auch Nico weiß, dass ihm seine Entlassung erst sehr viel später bevorstünde, wenn er nicht behindert wäre. Die meisten behinderten Straftäter, so zeigt die Erfahrung der JVA Bochum, werden nämlich zu Haftstrafen verurteilt, die am unteren Ende des juristisch Möglichen liegen.

 

Text und Fotos: Volker Neumann






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